Schreiende weinende Kinder

Oft kommen Eltern zu mir und bitten mich, ihr Kind wahrzunehmen, weil es ständig schreit und weint und sie nicht wissen, was sie tun sollen. Sie wünschen sich einfach nur, nach jahrelangem Aushalten, zunehmenden Schuldgefühlen und einer immer wiederkehrenden Machtlosigkeit, aus dieser belastenden Situation heraus finden zu können.

In den letzten Jahren habe ich viele Schreikinder wahrgenommen. Sie waren alle im Alter zwischen 2 und 7 Jahren. Dabei habe ich herausgefunden, dass es zwei Arten von Kindern gibt, die zum Schreien neigen: die Sensiblen und die Willensstarken

Das sensible Kind

Eine Mama kommt zu mir in die Praxis und berichtet mir von ihrer drei jährigen Tochter: „… sie weint permanent aus heiterem Himmel. Immer gibt es einen neuen Anlass, um furchtbar doll loszuweinen. Ich sage: komm, wir gehen jetzt rein und schon geht es los, ein völlig unangemessenes Weinen. Sie stößt sich leicht und zack wird so doll geweint, dass alle glauben könnten, sie wird misshandelt. Der Schuh geht nicht an, sie soll aus der Badewanne kommen, etwas schneller laufen o.ä. – alles nicht wirklich schlimm, doch sie reagiert mit entsetzlichem Weinen auf all diese Dinge. Jeden Tag weint sie zu viel zu doll und zu lange. Was mache ich bloß falsch? … Dazu kommt, dass Trost nicht hilft. Liebevoll sein hilft auch nicht. Sie anschreien hilft nicht. Wegsperren hilft nicht. … ich schäme mich, habe Schuldgefühle und bin absolut ratlos … ich habe schon Angst vor dem nächsten Ausbruch … zwischendrin ertappe ich mich immer wieder dabei, dass ich eiskalt werde, völlig resigniere, sie anschaue und dabei sogar Ablehnung oder gar nichts mehr spüre … “

Nehme ich sensible Schreikinder wahr, dann sind diese in ihrem Inneren völlig überflutet von fremden Gefühlen. Sie spüren den Schmerz ihrer Mama oder ihres Papas stärker, als sich selbst. Unverarbeitete Gefühle, wie: Trauer und Schmerz werden vom Erwachsenen abgespalten, das Kind nimmt sie in sich auf und weint sie bei jeder kleinsten Gelegenheit heraus. Müdigkeit und Unwohlsein, durch Krankheit oder Stress, begünstigen und triggern das Ausbrechen der fremden Gefühle sogar noch.

Da es nicht der eigene Schmerz des Kindes ist, hilft Trost nicht, auch gut zureden und verzweifelte Bestrafungen können nichts ausrichten, da das Kind nicht in der Lage ist, die fremden emotionalen Ladungen zu kontrollieren.

Je mehr und je länger das Kind weint, desto mehr stresst es den Erwachsenen. Das Schreien und Weinen löst mit der Zeit kein Mitgefühl mehr aus, sondern eher Ablehnung, wofür sich die Eltern dann schämen und belastende Schuldgefühle entwickeln. Besonders in der Gegenwart des Elternteils, dessen Gefühle ausagiert werden, kommt es immer wieder zu endlosen Dramen.

Während das Kind schreit, kontrolliert der Erwachsene seine Gefühle noch intensiver, was dazu führt, dass das Kind dessen Gefühle noch stärker ausagiert. Ein Teufelskreis entsteht.

Sensible Schreikinder sind in einer seelischen Notlage, die oft nicht erkannt wird. Die Not hört man auch in ihrem Weinen. Sie können nicht sagen, warum sie so heftig und unangemessen reagieren. Sie können nicht von sich aus aufhören. Und wenn sie langsam ins Schulalter kommen, dann ärgern und schämen sie sich auch noch dafür.

Nehme ich diese Kinder ohne die Gefühle der Eltern wahr, dann spüre ich ihr Wesen: es ist sensibel, offen, liebevoll … ich spüre oft ein großes Interesse an dieser Welt, sie lieben körperliche Nähe und etwas zusammen unternehmen ist wundervoll.

In einer Familie mit einem sensiblen Schreikind arbeite ich nur mit dem Elternteil, dessen Gefühle vom Kind ausagiert werden. Bleibt der Erwachsene an seinen unverarbeiteten Gefühlen verantwortungsbewusst und liebevoll dran, so dass diese integriert und geheilt werden können, dann hört das Kind schnell auf, emotionale Ausbrüche zu bekommen. Vielleicht weint es schneller als andere Kinder, da es sehr sensibel ist, doch nun können Trost und Umarmungen es beruhigen.

Das willensstarke Kind

Ein junges Paar kommt zu mir und beschreibt folgendes: „… unser kleiner Sohn haut und kneift ständig andere Kinder, er will über uns bestimmen und bekommt immer wieder schlimme Wein- und Schreianfälle. Wir versuchen auf ihn einzugehen und es ihm recht zu machen, doch es wird immer schlimmer. Jetzt, wo wir noch eine kleine Tochter bekommen haben, will er noch mehr das Sagen haben und boxt sogar die Kleine, wenn er sauer ist. Was können wir tun? …“

Nachdem ich den kleinen Jungen und seine Eltern wahrgenommen hatte, kam heraus, dass das Kind in seinem Wesen eine starke Willenskraft besitzt und diese nach Herzenslust gegen seine Umwelt einsetzt. Sein Wille war stärker, als der seiner Eltern. Seit er auf der Welt ist, versuchen seine Eltern ihn frei und liebevoll im Alltag zu begleiten. Sie schauen auf seine Bedürfnisse und erklären ihm geduldig, was falsch und richtig ist. Unmerklich und hingebungsvoll haben sich die Eltern über Jahre jedoch an seinem Willen orientiert: Was will er? Was will er nicht? – und danach ihren Willen, ihre Entscheidungen und Handlungen ausgerichtet. Im Laufe der Zeit wurde der Wille des Jungen immer stärker, wie ein gut trainierter Muskel. Jetzt will er wie ein kleiner Herrscher über alles und jeden bestimmen und duldet keinen Widerspruch.

Viele Alltagssituationen werden zum Machtkampf. Wenn sie ihn im Zimmer einsperren, dann tobt er und zerstört Dinge. Zwischendrin ist er lieb und spielt schön, doch wenn ihm etwas nicht passt, er getadelt wird, er etwas nicht will oder etwas will, dann haben seine Eltern keine Chance, weil er energetisch viel stärker ist, als sie. Manchmal bekommt einer der Eltern einen Wutausbruch, wenn es mal wieder zu viel wird, doch der verfliegt schnell und schuldbewusst wieder, da beide Eltern sich vorgenommen haben, nicht Feuer mit Feuer zu bekämpfen.

Der Wille ist, neben dem Fühlen und der Denkfähigkeit, ein wichtiger Aspekt unserer Persönlichkeit. Er kann jedoch von Mensch zu Mensch sehr unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Willensstarke Menschen haben ein starkes Durchsetzungs- und Umsetzungsvermögen. Ein Bedürfnis oder eine Idee kann energisch, kraftvoll und tatkräftig verfolgt werden.

Kommt ein Kind mit einem starken Willen zur Welt, dann ist es wichtig und ratsam, sich diesem Willen nicht unterzuordnen, sondern die Führung zu behalten. Das Schreien und Weinen eines willensstarken Kindes ist sehr fordernd, energisch und erzeugt starken energetischen Druck. Eltern, die ihren Willen nicht vorn an stellen, folgen dem Willen des Kindes anstandslos. Neben dem Weinen und Schreien versucht es auch durch Manipulation, indem es z.B. so tut, als hätten es sich gestoßen, aber auch durch Wut und durch körperliche Gewalt ans Ziel zu kommen. Das ist normal. Es zerstört, schlägt, beißt, kratzt und kneift. Der Wille hat einen direkten Bezug zur Körperkraft, wie das Denken zum Sprechen und die Emotionen zum Weinen oder Lachen. Bekommt der Wille einen destruktiven Ausdruck, dann sind gesunde klare Grenzen wichtig. Unsichere, willensschwache oder harmoniebedürftige Eltern sowie die, die alles richtig machen wollen, bekommen mitunter große Schwierigkeiten mit ihren willensstarken Kindern. Das Kind wird immer wieder versuchen, seinen Willen durchzusetzen. Dies liegt im Wesen des Kindes und ist keine Störung.

Oft müssen Eltern erst ihre eigene Willenskraft wieder spüren lernen, um bei ihrem Sprössling etwas ausrichten und um einen angemessenen Umgang mit dem starken Willen finden zu können.

Dem Willen können wir nicht mit Emotionen oder mit Erklärungen beikommen. Herumschreien, liebevoll trösten oder auf das Kind mit unzähligen Erklärungen und Fragen einreden verschlimmert die ganze Situation meist noch. Dadurch bekommt es vielleicht Angst, fühlt sich nicht ernst genommen, bekommt unangemessene Aufmerksamkeit oder schaltet ab. Es hilft nur eins: Wir brauchen den Kontakt zu einer Kraft in uns, die stark, ruhig, entschlossen und zielsicher ist. Das Kind kann spüren, ob Papa und Mama mit dieser konsequenten unerschütterlichen bestimmten rigorosen Kraft ausgestattet sind und diese in sich halten können.

Der Wille ist eine neutrale mächtige Kraft mit einer klaren Ausrichtung – z.B. ich habe das Sagen, ich bestimme, ich dulde das nicht, das geht so nicht, nein, ich will das jetzt nicht. Diese Kraft kann von uns Menschen natürlich auch bedrohlich und zerstörerisch ausagiert werden, deshalb fürchten sich ja so viele davor. Sie ist in Bezug auf unsere Kinder jedoch nur präsent, dann, wenn es seinen Willen mal wieder durchsetzen und über andere stellen will. Sie wird aufrechterhalten, nicht ausagiert, aber auch nicht hinterfragt, wenn die Situation unbehaglich und schwierig wird, stresst oder sogar eskaliert.

Willensstarke Schreikinder können uns eine große Hilfe und ein Ansporn sein, unsere eigene innere Stärke und Klarheit zu entwickeln. In meiner Arbeit übe ich mit den Eltern, diese Kraft in sich zu entdecken und auszudehnen. Willensstarke Kinder fordern Führung und Macht, welche ohne Aggression und Manipulation gelebt wird.

Es gibt auch Schreikinder, die sensibel und willensstark zugleich sind. Hier gilt es folgende Reihenfolge zu beachten: zuerst das Kind von den fremden Gefühlen befreien, dann die Führung in der Beziehung übernehmen.

Das Kind darf natürlich altersgemäße Entscheidungen treffen, was es anziehen oder essen möchte, jedoch nicht darüber hinaus in Entscheidungen der Eltern mit einbezogen werden: wollen wir jetzt losfahren, wollen wir die Tante einladen, wollen wir Opa anrufen, was soll ich denn heute kochen, wollen wir jetzt den Fernseher ausschalten, willst du nicht mal langsam ins Bett gehen, willst du heute nicht mal am Tisch bleiben, wollen wir einkaufen gehen – dies sind alles unangemessene Haltungen, die ein willensstarkes Kind dazu animieren unerlaubt und ungerechtfertigt über Situationen und andere Menschen zu bestimmen.