Der Jenseitssog

DSCF4537Der Sog ins Jenseits ist eine ’seelische Bewegung‘, der ich oft in meiner Arbeit begegne. Wenn jemand diesen Sog hat, dann bedeutet das nicht, dass derjenige sterben möchte oder Selbstmord gefährdet ist. Ein Jenseitssog entsteht, wenn ein Teil unserer Seele aus dem Leben zieht, zu jemanden hin, der bereits gestorben ist.

Im Laufe der Jahre habe ich zwei Varianten beobachtet:

  1. Ein Mensch hat jemanden durch den Tod verloren. Das können Vater, Mutter, Großeltern, Geschwister, Zwilling, Kinder, enge Freunde und sogar Tiere sein. In der Regel gibt es eine enge oder besondere Bindung zu der verstorbenen Person oder dem Tier. In den meisten Fällen wurde sich mit dem Verlust nicht ausreichend auseinander gesetzt, Loslassen fällt schwer oder es wurde versäumt, angemessen zu trauern.

  2. Eine nahestehende Person hat einen starken Jenseitssog, wie in Punkt 1. beschrieben und da diese Person aus dem Leben zieht und gefühlt ‚verloren‘ geht, wird unbewusst seelisch (fest-)gehalten. Dadurch kann man ‚mitgezogen‘ werden.

Ein Jenseitssog gehört, wie schon erwähnt, nicht zu den seelischen Verstrickungen und Dynamiken, die uns dazu bringen können, uns selbst das Leben nehmen zu wollen. Da gibt es ganz andere Belastungen, die eher dazu führen können. Es geht hier um die Nähe zu einer geliebten Person und nicht darum, sterben zu wollen. Für die Angehörigen ist es meist ein einschneidendes Erlebnis, wenn jemand die körperliche Existenzebene verlassen hat. Können wir dies nicht gut verarbeitet, dann tragen wir den Verlust als seelische Belastung mit uns herum.

Körperlich können wir nur auf einer Ebene existieren, doch seelisch auf verschiedenen Existenzebenen sein. Zieht unsere Seele vom Körper weg, weil wir jemandem hinterher oder ihn halten wollen, dann bekommen wir in unserer körperlichen Existenz Schwierigkeiten. Wenn uns klar geworden ist, dass wir bei unserem Körper bleiben müssen, dann ist das bei dieser Verstrickung schon ein guter erster Schritt.

Viele Menschen zieht es vom körperlichen Dasein weg, hin, in lichtere leichtere und feinere Bewusstseinsebenen. Dieses Weg-wollen ist jedoch kein Sog, sondern eine anhaltende Distanziertheit, die uns lediglich davon abhält, das Leben im Irdischen vollkommen anzunehmen. Im Jenseitssog dagegen wollen wir nicht vordergründig dem Irdischen entkommen, sondern folgen der Sehnsucht nach Nähe und Verbundenheit zu einem geliebten Menschen, der sich von uns entfernt hat.

Nehme ich einen solchen Jenseitssog wahr, dann begegnen mir folgende Anzeichen und Eigenschaften:

  • die Person weiß meistens nichts davon, weil der Sog nur auf einer tiefen Gefühlsebene gefühlt werden kann und wenn er gefühlt wird, dann kann er kaum benannt oder klar eingeordnet werden

  • der Jenseitssog ist kein schmerzhaftes oder heftiges Gefühl, eher eine Art subtiles aus dem Körper gezogen werden

  • es ist ein unentwegtes unterschwelliges Wegziehen, dass dazu führt, dass uns ca. 40-60% Lebensenergie nicht zur Verfügung stehen

  • solch ein Sog wird auch als süße melancholische Schwere empfunden, die zu einem gehört, wie ein alter lieber Teddybär

  • oft liegen Traurigkeit, Verlustschmerz oder Wut oben drauf, Gefühle, die meist gut unterdrückt werden

  • im Laufe des Lebens entwickelt die Person eine besondere Anziehung oder Neigung in Bezug auf Verluste, entweder sie verlässt ständig andere Personen, wird verlassen oder sie verliert immer wieder Menschen, ohne etwas dagegen tun zu können, womit die Ohnmacht bei dieser Verstrickung sehr deutlich wird

  • die geringere Lebensenergie, mit der die Person klar kommen muss, spiegelt sich oft in Formen von Mangel wieder: Geld, Freunde, Ideen, Zeit, Erfolg, Lust …

  • es ist für eine Person mit Jenseitssog sehr schwer, sich zu binden, Beziehungen verlaufen kompliziert oder erstarren

  • im Jenseitssog kann weiterhin eine Symbiose (siehe Artikel Symbiosen) vorliegen, die zu Lebzeiten schon bestand – solche Verstrickungen reichen über den Tod hinaus

  • das Gefühl, im Leben irgendwie festzustecken

Um einen Jenseitssog lösen zu können, müssen wir herausfinden, zu wem es unsere Seele hinzieht. Dann kann ein Ablösungs- und Trauerprozess beginnen. Nicht selten möchte die Person diesen Prozess nicht durchlaufen, um die Endgültigkeit des Getrennt-Seins nicht akzeptieren zu müssen. Das kommt daher, weil der natürliche Zustand, unserer liebenden verbundenen Seele, Einheit und Nähe ist. Es ist gegen ihre Natur, sich zu trennen, sich abzuschneiden und unverbunden zu sein. Das Diesseits und das Jenseits sind wie zwei verschiedene Räume. Wir können mit dem einen (seelischen) Bein hier und mit dem anderen dort sein, doch dann sind wir in keinem Raum richtig anwesend.

Die Tür zum Jenseits steht immer offen. Für unsere Seele existiert der Tod nicht. Der Tod bedeutet nur für unseren physischen Körper das Ende. Zieht es die Seele aus dem Leben ins Jenseits, dann nimmt dieser Sog die Energie, die wir im Alltag brauchen, mit sich. Wir fühlen uns der verlorenen Person zwar näher, zahlen jedoch einen hohen Preis: ein unlebendiges und halb gelebtes Leben. Um den inneren Widerstand gegen das Getrennt-Sein zu überwinden, kann es helfen, zu verstehen, wie sehr wir uns mit dieser seelischen Grätsche schaden und wie wenig Liebe, Freude und lebendiger Seelenfrieden uns dadurch im Alltag bleibt.

Die folgenden Sätze können uns bei der Ablösung behilflich sein:

  • Ich lassen dich ziehen.

  • Ich hier und du da.

  • Ich bleibe noch ein bisschen (20/30/40 Jahre) und dann komme ich auch.

  • Ich will leben und komme zu dir, wenn ich dann auch gestorben bin.

  • Es tut mir sehr leid, dich loslassen zu müssen. Bald sind wir wieder zusammen.

  • Ich liebe dich und bleibe hier.

  • Ich will dich nicht länger halten und lasse dich jetzt gehen.

  • Ich lebe und du bist gestorben. Nun geht unsere Reise für eine Weile getrennt weiter.

Diese Sätze können so lange zu dem Verstorbenen oder zu demjenigen, den es aus dem Leben zieht, in Gedanken gesagt werden, bis keine Träne mehr fließt, kein Schmerz mehr aufsteigt, bis diese Sätze frei und leicht gesagt werden können.