Es gibt einen Zustand, der während meiner Arbeit immer wieder in Erscheinung tritt, den ich als das „Nichts“ bezeichne.
Es ist nicht einfach, es zu beschreiben, doch da es so viele Menschen betrifft, werde ich es, so gut ich kann, von allen Seiten beleuchten.
Das bemerkenswerte an ihm ist, dass es durch seine Substanzlosigkeit oft nicht ernst genug genommen wird, nicht deutlich erkannt oder sich nicht ausreichend damit auseinander gesetzt wird. Das „Nichts“ ist all das, was in unseren Kinderjahren nicht da war, was wir innerlich nicht bekamen, all das, was uns seelisch gefehlt hat.
Entwickeln wir ein Bewusstsein über das, was wir nicht bekommen haben, dann müssen wir uns nicht unser ganzes Leben lang daran abarbeiten, dann suchen wir nicht permanent nach dem, was wir nicht hatten.
Wenn wir das „Nichts“ entdecken, dann werden wir mit einem sehr unnatürlichen zwischenmenschlichen Zustand konfrontiert. Normalerweise gibt es zwischen uns Menschen immer irgendeine Form von Verbindung. Das kann durchaus auch Wut und Übergriffigkeit sein. Doch wenn das „Nichts“ zwischen uns auftaucht, dann ist da: nichts.
Ich erlebe immer wieder, dass Menschen lieber eine seelische Last tragen oder dem Zorn und der Manipulation ihrer Eltern ausgesetzt sind, anstatt mit gar nichts verbunden zu sein. Denn für die menschliche Natur ist das „Nichts“ das widernatürlichste der Welt. Es verursacht großes Leid in uns. Ähnlich, als würden wir völlig verloren im Weltall schweben.
Zu einem schweren Schicksal zählen nicht nur die negativen Ereignisse, sondern auch all das, was wir entbehren mussten.
Etwas anzunehmen, das anwesend und vorhanden ist, ist leichter, als etwas, das nie da war. Stehen wir vor dem „Nichts“, dann fließt nichts zu uns. Hier gehen wir leer aus. Wenn unsere Eltern zu uns keine Verbundenheit herstellen, uns nicht wahrnehmen und nicht sehen konnten, wenn sie kein wahres Interesse an uns aufbringen, uns keine Liebe und keine liebevolle Aufmerksamkeit entgegen bringen konnten, sie innerlich abwesend oder permanent mit anderen Dingen beschäftigt waren, mit uns nicht reden und auch nicht zuhören konnten, dann entstand zwischen ihnen und uns ein leerer Raum – das „Nichts“.
Kleine Kinder sind seelische Empfänger. Sie sind weit und offen für alles, was von den Eltern kommt, aber auch für das, was nicht kommt.
Das, was wir nicht empfangen haben, hat uns genauso geprägt, wie das, was in unsere Richtung gesendet wurde. Sehr viele Menschen haben in ihrer Kindheit die Erfahrung des „Nichts“ gemacht und reproduzieren es heute immer wieder, so dass sie sich permanent in Situationen und Beziehungen wieder finden, in denen sie weiterhin ignoriert und übergangen werden, nicht bekommen, was sie eigentlich brauchen – an einem bestimmten Punkt immer wieder leer ausgehen.
Eine andere Prägung, die das „Nichts“ hinterlässt, ist innere Haltlosigkeit, das Gefühl, verloren zu sein, tiefe innere Einsamkeit und Unverbundenheit. Aus diesen seelischen Zuständen heraus, müssen wir dann unser Umfeld permanent kontrollieren oder uns die Aufmerksamkeit einfordern, die uns fehlte, um uns überhaupt halbwegs sicher und geliebt fühlen zu können. Das wirkt auf unsere Mitmenschen natürlich eher abstoßend, als anziehend. Sie ziehen sich dann innerlich zurück und was bleibt? Nichts.
Das „Nichts“ ist ein unnatürlicher Zustand, der uns zutiefst erschüttern und verwirren kann.
Wird das „Nichts“ im Leben oder in der inneren Arbeit sichtbar, dann wird es begleitet von Gefühlen, wie Verwirrungen, Traurigkeit, Benommenheit, Schmerz, Isolation, Abwehr, Idealisierung, verschönendem Verständnis, Kontrollzwang oder Handlungsunfähigkeit. Wir sehen uns einer Situation gegenüber, die uns ohnmächtig oder angriffslustig machen kann. Doch egal, was wir unternehmen und wie wir reagieren: Nichts bleibt Nichts.
Hat unsere Seele diese unsägliche Prägung erfahren, dann erschaffen wir unbewusst in der Gegenwart ähnliche Situationen und Begegnungen, weil unsere Seele heilen möchte. Sie ist bestrebt, diese alten Belastungen loszuwerden, deshalb ziehen wir Personen und Situationen an, die uns nicht das geben können, was wir eigentlich brauchen.
Unsere alltäglichen Probleme sind dafür da, um uns über unsere längst vergessene innere Beschaffenheit bewusst werden zu können.
Für die meisten Kinder ist das „Nichts“ ein schockierendes Erlebnis, dass sie nicht verarbeiten können und daher verdrängen müssen. Im Erwachsenenalter taucht das „Nichts“ dann immer wieder auf, doch wir können oft nicht wirklich verstehen, was das eigentlich soll. Wir halten dann beharrlich an Menschen fest, die uns niemals das geben können, wonach wir suchen. Bis wir irgendwann glauben, dass wir es nicht besser verdient haben oder hart dafür arbeiten müssen, um ein wenig von dem zu bekommen, was uns fehlt.
Vielleicht fühlen wir uns bereit für Liebe, Wohlstand und für lebendige Begegnungen, doch wir erleben immer wieder das Gegenteil davon. Kaum jemand kommt dann auf die Idee, dass es sich hier um das sichtbar werden und wiederholen des „Nichts“ handelt – die Abwesenheit von Liebe, Fülle und Verbundenheit, die wir schon von klein auf kennen.
In uns entsteht dann gern die große Hoffnung, dass sich unsere Eltern, Geschwister, Partner oder Freunde so weit verändern, bis sie uns irgendwann das geben können, was wir brauchen. Doch das können sie nicht, da sie nur so sein können, wie sie eben sind und nicht anders. Akzeptieren wir das, dann wird es leichter und das „Nichts“ wird deutlicher.
Um das „Nichts“ in uns zu wandeln, ist es wichtig, sich der Abwesenheit der frühen Verbundenheit und Liebe bewusst zu werden und zu fühlen, was es mit uns gemacht hat. Idealisieren wir allerdings die Beziehung zu unseren Eltern, lehnen wir sie ab oder trauen wir unserem eigenen Gefühl nicht, dann wird es schwer, das „Nichts“ zu entlarven.
Oft erlebe ich, dass Menschen behaupten, innig geliebt worden zu sein, doch wenn ich mir die Beziehung zu ihren Eltern genauer anschaue, dann wird schnell klar, dass sie zwar gut versorgt wurden, aber keine Liebe von ihnen kam. Dann höre ich oft den verzweifelten Satz: „Ist schon ok. Sie konnten das halt nicht besser.“ Die Liebe floss dann meist vom Kind zu den Eltern, aber nicht in die andere Richtung. Solch eine seelische Dynamik führt später geradewegs in die Erschöpfung, ins alltägliche Funktionieren, ins Singledasein oder in eine andauernde Überverantwortung, da Geben und Empfangen in uns nicht im Gleichgewicht sind.
Beginnen wir unseren eigenen Gefühlen zu trauen, dann realisieren wir bald, dass wir seelisch nicht wirklich das bekamen, was wir brauchten.
Es ist ein trauriger beklemmender Moment, wenn wir uns klar darüber werden, das wir nichts empfangen konnten, weil einfach nichts gegeben wurde. In jeder Zelle unseres Körpers spüren wir den Schock und die Ohnmacht. Wir würden am liebsten weglaufen oder dagegen angehen, doch wir entkommen dem „Nichts“ nicht. Es ist ein Teil von uns – unangenehm, schmerzhaft, isolierend und deprimierend.
Unsere liebende Aufmerksamkeit uns selbst gegenüber kann das „Nichts“ und seine Folgen heilen.
Im Gegensatz zu diesem Teil, gibt es noch ein anderes Nichts in uns. Es ist das reine Bewusstsein in unserem Wesenskern. Hier ist auch nichts, doch dieses Nichts ist voller Leben und voll von neuen Möglichkeiten. Dieses Nichts trägt uns und füllt uns auf vollendete Weise aus. Es macht uns vollkommen glücklich und zufrieden. Es kann die Abwesenheit von Liebe und Verbundenheit heilen.
Es gibt ein unnatürliches „Nichts“ in uns und ein natürliches. Nur durch unser Gefühl können wir erfassen, womit wir es zu tun haben.
Fühlt es sich beängstigend, bedrückend und belastend an, dann haben wir es mit dem „Nichts“ zu tun, für das wir keineswegs verantwortlich sind und wogegen wir als Kind absolut nichts tun konnten. Das macht es so unangenehm. Und deshalb verbringen wir viel Zeit und Mühe damit, diesem „Nichts“ auszuweichen. Oder wir versuchen es besser zu machen, als unsere Eltern, doch das nutzt alles nichts, denn wir gleichen dann nur ein Defizit aus, anstatt aus der wahren Natur unseres Inneren zu leben.
Unsere Verantwortung liegt darin, die Existenz des „Nichts“ in uns und in unserer Vergangenheit vollkommen aufzuspüren und liebend anzunehmen, dann erst kann es verbundener, liebender und sicherer in uns, in unserem Leben und in den nachfolgenden Generationen weiter gehen.