Traurigkeit und seelischer Schmerz

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Traurigkeit dehnt sich in unserer Gefühlswelt aus. Sie ist immer da und wenn es einen Anlass gibt, dann macht sie sich in uns breit. Das ist ihre Verhaltensweise. Traurigkeit gehört zu unserer Gefühlswelt, wie das Blut zu unserem Körper. Säfte fließen, Muskeln spannen sich an, Gelenke bewegen sich in ihrem vorgezeichneten Radius und Traurigkeit dehnt sich aus. Nach einer Ausdehnung zieht sie sich auch wieder zusammen, so, wie ein Muskel sich nach der Anspannung auch wieder entspannt – wenn man ihn lässt.

Durch Weinen bekommt Traurigkeit einen Ausdruck und kann, wenn nötig, abfließen. Halten wir Traurigkeit fest, sammeln wir sie über Jahre in uns an oder findet sie aus anderen Gründen keinen Ausdruck oder Raum, dann bewegt sie sich Richtung Körper, wo sie Krankheiten, Schwere und Erschöpfungszustände verursachen kann.

Seelische Verletzungen dagegen sind den körperlichen Verletzungen sehr ähnlich. Sie werden zugefügt. Unser eigenes Denken, Enttäuschte Erwartungen, Ereignisse in unserem Leben oder einfach eine verletzende Bemerkung, können uns schmerzlich treffen und seelische Wunden hinterlassen. Seelische Verletzungen können zutiefst schmerzhaft sein.

Werden starke seelische Verletzungen gefühlt und zum Ausdruck gebracht, dann geschieht dies oft in Form von Schreien, Zittern, dem Impuls, schlagen, etwas zerschlagen oder treten zu wollen sowie lautes Weinen. Auch Verletzungen können in den Körper verschoben werden, wenn wir nicht bereit sind oder in der Lage fühlen, sie zu fühlen. Im Physischen erzeugen sie dann vorzugsweise chronisch entzündliche Prozesse.

Gefühle bestehen aus energetischen Ladungen, Kräften, Spannungen und wuchtigem Druck, die unserem Nervensystem und all unseren sensiblen körperlichen Rhythmen und Vorgängen stark zusetzen und diese sogar zersetzen können.

Traurigkeit dehnt sich auf der Höhe des Solarplexus aus. Wut, ein anderes ursprüngliches Gefühl, nehme ich im Körper weiter unten im Bauchraum wahr. Dehnt sich Traurigkeit aus, dann können wir das als Druck spüren, der Richtung Hals immer stärker wird.

Kinder lassen Traurigkeit einfach durch den Hals fließen, weinen und schluchzen. Erwachsene halten Traurigkeit im Bereich des Zwerchfells oder des Halses oft reflexartig fest, denn hier sitzen Ängste, die den Fluss der Traurigkeit blockieren können. Zu diesen Ängsten gehören: die Angst vor Zurückweisung, Ablehnung und Missbilligung und die vor Auseinandersetzung, Konflikt und Spannung. Im Hals sitzt aber auch die Fähigkeit der Selbstkontrolle, die wir einsetzen, wenn wir die für uns unangenehmen Gefühle einfach nicht fühlen wollen.

Eine seelische Verletzung ist ein deutlich anderes Gefühl, als Traurigkeit. Sind wir verletzt, dann fühlen wir uns wund, gekränkt, gedemütigt, erniedrigt, entwürdigt oder misshandelt. Verletzungen entstehen, wenn unsere Grenzen von uns oder unseren Mitmenschen nicht gewahrt wurden, wenn negative Einflüsse uns treffen oder wenn unsere Erwartungen und Vorstellungen nicht erfüllt wurden. Eine seelische Verletzung hinterlässt einen Schmerz, durch den wir uns gequält und schutzlos fühlen. Begleitend nehme ich bei diesem Gefühl oft Enttäuschung, Frust, Zorn und unterdrückten Ärger wahr.

Traurigkeit nehme ich als ein sehr ursprüngliches Gefühl wahr. Ich empfinde es als eine Energie, die nicht feurig ist, wie die Wut und nicht so vitalisierend und belebend, wie die Lust, auch nicht so eng und beklemmend, wie Angst, sondern eher etwas bleiern, sumpfig, dumpf und lähmend. Um die Traurigkeit herum können Hoffnungslosigkeit, alter Kummer und längst vergessene Kränkungen, Mitleid, Einsamkeit und die Erfahrung von emotionaler Vernachlässigung zu finden sein.

Traurigkeit kann außerdem auch mit Freude, Lust oder Wut vermischt sein, da dies alles Grundgefühle sind, die sich auch gleichzeitig ausdehnen können. Solch ein Gefühlsbrei kann uns allerdings sehr durcheinander bringen, da unsere Gefühle eine wichtige Orientierung für uns darstellen. Daher ist es immer gut, die innere emotionale Aufregung ruhiger werden zu lassen, Gefühle einzeln zu fühlen und sie zu klären.

Folgende Fragen können dabei helfen:

  • Was fühle ich genau?

  • Wo sitzt das Gefühl im Körper?

  • Was macht mich traurig?

  • Was macht mich wütend?

  • Was hat mich verletzt bzw. alte Verletzungen aufgerissen?

  • Sind es meine Gefühle, die ich da wahrnehme oder kommen sie aus meiner Familie oder aus meinem Umfeld? (Das ist für viele Menschen eine sehr wichtige Frage. Dazu unten mehr…)

Weitet und dehnt sich unsere Seele aus, wie wir es in der Weite der Natur, in Therapie oder in der Meditation erleben können, dann schiebt sie gern einen Berg Traurigkeit vor sich her. Wie ein großer Schneeflug den Schnee auftürmt, schiebt unser Seele unsere Traurigkeit in Richtung Hals, wo sich dann ein dicker Kloß bildet. Es kann auch am Brustbein ein Druck entstehen, der uns den Atem zu nehmen scheint. Hier kann es sehr eng werden, wenn in uns die Angst vor Verletzungen schlummert oder wenn wir uns aus irgendeinem anderen Grund vor der Liebe verschlossen haben.

Entstehung von Traurigkeit

Traurigkeit ist etwas, das in seiner ursprünglichen Form keine Therapie oder Heilung braucht. Sie entsteht eigentlich gar nicht, sondern dehnt sich in unserem Körper, wenn es eine entsprechende Gelegenheit gibt, aus. Als Ausdruck unserer Seele, wie auch Freude, Wut und Lust, ist Traurigkeit einfach nur gesund. Ihr Ausdruck über unseren Körper ist, wie schon erwähnt, das Weinen. Wenn sie sich im Laufe der Jahre im Körper verfangen hat oder als Blockade in unserem Gefühlskörper verharrt, dann kann Therapie sehr hilfreich sein. Denn es ist gut, wenn Traurigkeit Raum bekommt, in dem sie fühlbar wird und fließen kann.

Bevor Traurigkeit sich ausdehnt, braucht sie einen Auslöser, einen Grund. Da wir Menschen sehr unterschiedlich gestrickt sind, lösen auch unterschiedliche Dinge unsere Traurigkeit aus. Wenn wir einen geliebten Menschen verloren haben, dann dehnt sich Traurigkeit oft in vielen Schüben, über Monate und Jahre aus, was wir als Trauern bezeichnen.

Bei empathisch emotionalen Menschen kommt Traurigkeit schneller in Wallung: beim Anblick einer Hochzeit, eines Babys, eines traurigen Menschen, bei einer berührenden Filmszene oder während ein alter Herzschmerzsong gespielt wird. Es kullern auch die Tränen, wenn über Liebe, Vertrauen, Verbundenheit oder Hoffnung gesprochen wird, sich entschuldigt wird, etwas lieb gewonnenes verabschiedet werden muss oder wenn tiefe Dankbarkeit ausgesprochen wird.

In meinem Praxisalltag begegne ich immer wieder Menschen, die mit dem Weinen nicht aufhören können. Es gibt dann meist auch keinen handfesten Beweggrund, der das viele Weinen rechtfertigt. Das hat in der Regel damit zu tun, dass nicht die eigene Traurigkeit heraus geweint wird, sondern die der Mutter, des Vaters oder der Großeltern.

Unverarbeitete Trauer und Traumatisierungen unserer Vorfahren kann bewirken, dass wir ständig weinen müssen und dabei keine seelische Erleichterung erfahren. Oder wir spüren instinktiv, dass etwas nicht stimmt, wenn fremde Gefühle in uns sind und trennen uns gänzlich von einem Großteil unserer Gefühlswelt ab. Hier ist es wichtig, die eigenen von den fremden Gefühlen unterscheiden zu lernen. Und die Gefühle, die nicht die eigenen sind, dorthin zu entlassen, wo sie hingehören.

Viele Menschen fühlen unentwegt die Gefühle anderer Menschen. Diese sensiblen, emotional empfangenen Menschen, nehmen fremde Gefühle und Atmosphären ihrer Umwelt in sich auf und denken, es wäre das Eigene. Das kann sehr verunsichernd sein und zu falschen Selbstbildern führen, körperliche und psychische Krankheiten verursachen, aber auch das Immunsystem anhaltend überlasten.

Rein körperliche Ursachen, die zu unentwegtem Weinen führen können, sind Hormon- und Mineralmangel, die durch viel Stress, älter werden und durch eine ungesunde Lebensweise zustande kommen können.

Aber auch das Freiwerden von alter Traurigkeit, kann viel Weinen auslösen. Auslöser gibt es da sehr unterschiedliche: ein Gespräch, Verluste, Abschied, Verliebtsein, Sex, ein Film oder Meditation. Dann sind wir ganz verwundert und verwirrt, weil plötzlich Traurigkeit in uns hervorbricht, die keinen aktuellen realen Bezug hat. In solchen Momenten können wir davon ausgehen, dass unser Körper eine Ladung angestauter Gefühle und Erinnerungen aus der Vergangenheit freigeben will. Keine Angst – wir können sicher sein, dass diese, wie eine Welle kommt und auch wieder geht.

Alte Traurigkeit, die sich oft wie ein Schatten vor unsere Liebesfähigkeit legt und unsere innere Freiheit behindert, entsteht immer in unserer Kindheit.

Hier begegnen mir folgende Auslöser:

  • die familiäre Atmosphäre war kalt, lieblos und belastend

  • die Liebe, die gegeben wurde, war zu wenig oder nicht sanft und liebevoll genug

  • die Eltern konnten nicht in einen wachen aufmerksamen Kontakt gehen, nicht trösten und nicht zuversichtlich sein

  • die Welt wurde grundsätzlich als unangenehm und lieblos wahrgenommen

  • Eltern wurden als unberechenbar wechselhaft und als funktional erlebt

  • das Schlechte, Gewaltvolle und Böse unserer Existenzebene wird als Qual, als Bedrohung und als Enge empfunden

  • Liebe kann sich, wegen familiärer Blockaden, nicht ausdehnen und fließen

  • Eltern, Geschwister oder Großeltern leiden an ihrem schweren Schicksal, worunter mitgelitten wird

  • innere Hilflosigkeit, Ohnmacht, Mangel an Sicherheit und Halt können ebenfalls zu großer Traurigkeitsansammlung in unserer Gefühlswelt führen

In alter Traurigkeit vermischt sich Traurigkeit mit den Erinnerungen aus einem längst vergangenen Erlebnis. Bekommt diese Traurigkeit Raum durch bewusste Wahrnehmung oder durch das Zulassen von Gefühlen, dann sausen uns nicht nur Gefühle, sondern auch vergessene Erinnerungen um die Ohren. Das kann sehr verwirrend sein, vor allem dann, wenn wir denken: „damit habe ich längst abgeschlossen“, „da bin ich drüber hinaus gewachsen“, „das kann mich nicht mehr anheben“ oder „da bin ich längst durch“.

Gerade wenn das Leben inzwischen schöner, runder und glücklicher ist, als damals, kann es uns schwer fallen, die Altlasten zuzulassen. Da sie unserem aktuellen Lebensgefühl nicht mehr entsprechen, empfinden wir sie als störend. Die Unterscheidung zwischen aktueller und alter Traurigkeit ist hier sehr hilfreich und wichtig, so dass wir keine Zweifel an unserer Selbstwahrnehmung bekommen und nicht in Selbstabwertungen landen: „Mit mir stimmt etwas nicht.“ „Ich bin doch nicht normal.“

Wie oft haben wir uns darum bemüht, traurige Momente einfach nur schnell hinter uns zu lassen, doch ein paar Jahre später stiegen dann all die alten Gefühle wieder in uns auf und belästigten uns regelrecht – oft auch über körperliche Schmerzen.

Wie kommt das?

Wir können Gefühle nicht abschütteln. Wir können sie nur abspalten und verdrängen, dass es so scheint, als wären sie nicht mehr existent. Es bleibt jedoch immer die Angst, dass es irgendeinen Auslöser geben wird, der sie in uns aufsteigen lässt. Durch Verdrängung ist es aber möglich, über viele Jahrzehnte die alten Gefühle in Schach zu halten. Das kann zwar Leben retten und stabilisieren, doch leider geht das immer auf Kosten unserer Beziehungen. Denn nur so weit, wie wir mit uns selber verbunden sind, können wir auch anderen Menschen nah sein.